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Titel
Reordering Adivasi Worlds. Representation, Resistance, Memory


Autor(en)
Dasgupta, Sangeeta
Erschienen
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
£ 54.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Heymann, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit der Ernennung von Draupadi Murmu, einer Vertreterin der Bevölkerungsgruppe der Santal, zur Präsidentin Indiens im Juli 2022, hat es das Thema der Anerkennung von Adivasi im indischen Nationalstaat sogar in die deutschen Nachrichten geschafft. Der Begriff „Adivasi“ ist ein Sammelbegriff, der eine Vielzahl von Gruppen indischer Ureinwohner:innen bezeichnet, die über das ganze Land verteilt leben. Die Identifikation als Adivasi ist ethnisch, aber vor allem auch politisch umstritten, denn mit dem Begriff ist häufig auch ein rechtlicher Sonderstatus als „Scheduled Tribes“, beispielsweise mit Blick auf verschiedene soziale Fördermaßnahmen verbunden. Als ein Siedlungsschwerpunkt von Adivasi-Gemeinschaften gilt allgemein das Hochplateau Chhotanagpur, das sich über die Bundesstaaten Jharkhand, Chhattisgarh, Odisha, West-Bengalen und Bihar erstreckt. Auch die neue indische Präsidentin stammt aus dieser Region. Hier, insbesondere im Bundesstaat Jharkhand, ist die Frage, wer eigentlich wirklich Adivasi ist, längst Teil eines Kulturkampfes geworden, der sich in der indischen Union zwischen hindunationalistischen und oppositionellen Gruppen abspielt. Aufgrund der wirkmächtigen Geschichte christlicher Missionsgesellschaften in Chhotanagpur artikuliert sich hindunationalistische Politik hier vor allem in Form der Ideologie der ghar wapasi, wörtlich der Rückkehr christianisierter Adivasi in das Haus der (Hindu-)Nation. Aus jener Sicht kann kein Adivasi sein, wer Christ ist. In diesem gegenwärtigen Kontext bewegt sich Sangeeta Dasguptas Monographie Reordering Adivasi Worlds. Representations, Resistance, Memory. Das Buch möchte eine Gegenerzählung zu den in der Kolonialzeit verwurzelten Annahmen von Adivasi-Identität im Sinne eines „postcolonial understanding“ präsentieren (S. 4). Dasgupta wählt dafür als Untersuchungsgegenstand die Tana Bhagat, eine kulturell-politische Bewegung von Oraon-Adivasi, die sich in den 1920er-Jahren Gandhi anschloss und heute nur noch relativ wenige Mitglieder hat.1

Die kolonialen Wurzeln der Konstruktion von Adivasi-Identität liegen für Dasgupta in den komplex miteinander verflochtenen Diskursen von „colonial ethnography, missionary narratives and anthropological writings“ in und über Chhotanagpur im 19. und frühen 20. Jahrhundert (ebd.).2 Diese Diskurse standen nicht nur in einem interaktiven Konkurrenzverhältnis zueinander, sie waren zudem auch an die ideengeschichtlichen Entwicklungen des kolonialen Europa im Allgemeinen gebunden. Dasgupta macht drei langlebige essentialistische Stereotype und Klischees in den kolonialzeitlichen Perspektiven der Berichte über Adivasi aus: Erstens sind Adivasi von Nicht-Adivasi – hier Hindus und Muslime – grundsätzlich zu unterscheiden. Zweitens stellen sie, als Bewohner:innen einer abgeschiedenen Region, eine statische Sozial- und Kulturform dar – eine Annahme, die mit Vorstellungen von der „Ursprünglichkeit“ und „Primitivität“ dieser Gruppen einhergeht. Und schließlich werden Adivasi-Gesellschaften als egalitäre Bauerngemeinschaften imaginiert.

Sangeeta Dasgupta setzt diesen Annahmen am Beispiel der Tana-Bhagat-Bewegung eine historisch ökonomische und kulturanthropologisch fundierte Kritik entgegen. Ihre Geschichte lässt dynamische Entwicklungen, Transkulturationspraktiken und Mobilität als zentrale Elemente von Adivasi-Gesellschaften in den Vordergrund rücken, die zudem nicht ohne vielfältige Beziehungen mit Nicht-Adivasi denkbar sind. Ein wichtiges Argument Dasguptas ist dabei, dass die Tana Bhagat in gleicher Weise gegen die britische Kolonialherrschaft wie auch gegen die Oraon-Elite opponierten. So stellt ihr Bespiel auch das Klischee der homogenen Adivasi-Gesellschaften infrage. Kurz: Sangeeta Dasguptas Buch zeigt auf, dass Adivasi nicht die „absolute alterity of modernity“ waren und sind, als die sie koloniale Diskurse konstruiert haben (S. 258).

Reordering Adivasi Worlds ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil rekonstruiert Dasgupta anhand ausgewählter Texte koloniale Adivasi-Diskurse in ihren historischen Kontexten mit einem besonderen Blick auf die Oraon. Hierbei gelingt es ihr, bei einigen Autoren Entwicklungstendenzen auszumachen, sowie intertextuelle Bezüge zwischen den Berichten von Beamten, Missionaren und Wissenschaftlern aufzudecken. Die besprochenen Texte dienen Dasgupta im Folgenden sowohl als Informationsquellen wie auch als argumentative Negativfolie.

Im zweiten Teil verortet Dasgupta die Tana-Bhagat-Bewegung zunächst in den Lebenswelten der Oraon von Chhotanagpur sowie in den spezifischen Kontexten der britischen Kolonialzeit. Sie elaboriert ihre These von der Opposition der Tana Bhagat gegen die Autorität der bhuinhars (der ersten Siedler). Diese sei notwendigerweise gleichermaßen ökonomischer wie kultureller Natur gewesen. Der steigende Druck auf einfache Oraon im Zuge der kapitalistischen Öffnung des Landmarktes, der systematischen Bevorzugung von bhuinhars und zamindars (Landbesitzer) und einer zunehmenden Abholzung des Waldes als Resultat britischer Kolonialpolitik war für die Entstehung der Bewegung zentral (S. 240). Im letzten Abschnitt des zweiten Teils widmet sich das Buch – einen Mittelweg zwischen nationalistischen und subalternen Narrativen suchend – der Geschichte der Kooperation der Tana Bhagat mit der Gandhi-Bewegung. Dasgupta stellt die These auf, dass die Tana Bhagat in eigenständiger Weise die Ideale der Unabhängigkeitsbewegung transformierten und für eigene Interessen zu nutzen wussten. Die Tana Bhagat waren also mitnichten die „passive followers of Congress ideology”, als die sie sowohl missionarische, koloniale als auch indisch-nationalistische Quellen darstellen (S. 267).

Dem allgegenwärtigen methodischen Problem des kolonialen Archivs im Umgang mit der Geschichte von subalternen Gruppen begegnet Dasgupta in zweierlei Weise. Erstens unterzieht sie die kolonialen Texte einer Tendenzkritik, zweitens stellt sie ihnen verschiedene Gegenüberlieferungen der Oral History gegenüber. Zeitgenössische Berichte und Interviews von und mit Tana Bhagats, die Dasgupta durch Reflexionen ihrer je eigenen Positionalität begleitet, sind ebenso darunter wie historische Aufzeichnungen von Liedern, Reimen, Balladen und Anekdoten etc. (S. 18). Die Monographie nimmt auf diese Weise einen experimentellen Vergleich von unterschiedlichen Geschichts- und Kulturnarrativen in verschiedenen Überlieferungsformen vor.

Sangeeta Dasgupta hat ein beeindruckendes und lesenswertes Buch über ein wenig erforschtes Thema vorgelegt. Sie gibt nicht nur tiefe Einblicke in die Geschichte der Adivasi in Chhotanagpur und ihrer Repräsentationen, sondern lässt diese, wann immer möglich, selbst zu Wort kommen. Das Buch stellt mit seiner methodischen Kombinatorik verschiedener Forschungsansätze nicht nur ein gelungenes akademisches Experiment dar, sondern ist auch ein überzeugendes Plädoyer für Oral History. Mit dem Blick auf die Tana Bhagat hat Dasgupta zudem ein innovatives Forschungsdesign für die Subaltern History vorgelegt. Es mag heuristischen Zwängen geschuldet sein, dass trotz der anfänglichen Reflexionen im Laufe der Monographie koloniale Kategorien, wie zum Beispiel Stammesnamen, unhinterfragt verwendet werden. So erscheinen dann manchmal die Oraon als isolierter ‚Stamm‘, obwohl doch intensive Beziehungen zu anderen Adivasi-Gruppen unbestreitbar sind. Zudem lässt sich die Frage stellen, ob die Sozialstruktur der Oraon und ihr Geisterglaube nicht auch bei anderen Adivasi vorzufinden sind. Gerade in diesem Zusammenhang ist die These Dasguptas, bei den Tana Bhagat handele es sich auch um eine soziale Protestbewegung gegenüber eben jenen religiös begründeten elitären Strukturen und Praktiken sehr überzeugend. Hier eröffnet das Buch Möglichkeiten für weiterführende, vergleichende Studien zu ähnlichen Bewegungen der Zeit bei anderen Adivasi-Gruppen, etwa der Birsa-Munda-Bewegung.

Anmerkungen:
1 Die Autorin verwendet in ihrer Arbeit den Begriff Adivasi, wenn sie nicht explizit von den Oraon spricht. Dieser ist selbst relativ jung und ersetzte die im 19. Jahrhundert gängigen Bezeichnungen wie „tribes“ oder „Kolh“. Trotz seiner Widersprüchlichkeit und politischen Konnotation verteidigt Dasgupta die Wahl der Bezeichnung. „Adivasi“ sei ein selbstgewählter Marginalisierungs- und Widerstandsbegriff, der auch so etwas wie kulturelle Einheit in der Vielfalt bedeuten könne. Zudem geht es in dem Buch nicht um statische Definitionen, sondern um die Prozesse von „becoming Adivasi“, also um die Repräsentationskategorie Adivasi (vgl. S. 29–33).
2 Dasgupta konzentriert sich in ihrer Analyse von missionarischen Arbeiten auf die Texte der deutschen Gossner Mission, der belgischen Jesuiten und der britischen Society for the Propagation of the Gospel (SPG).

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